Fingerzeig auf neue Menschenart in Sibirien – oder doch nicht?
Eigentlich diente dieser Blog nur einem Nachtrag zu meinem Buch. Doch die heutige Presseberichterstattung über die Genetik eines dreißigtausend Jahre alten sibirischen Kleinkinder-Fingerknochens scheint mir so voller Missverständnisse, dass ich mich hier noch einmal zu Wort melden will. Es ist nämlich eher unwahrscheinlich, dass wir hier tastächlich eine neue Spezies, eine bisher unbekannte archaische Menschenart vor uns haben, wie von der Presse vermeldet.
Gen-überraschung im kleinen Finger
Bislang wurde von diesem archaischen Menschenkind nur die mitochondriale DNA analysiert, also die DNA der Zellkraftwerke, die einen sehr kleinen Bestandteil des gesamten Genoms ausmacht. Über der Kern-DNA sitzen die Forscher noch. Ohne diese erste genetische Analyse, die ein etwas überraschendes Ergebnis brachte, hätte man den Fingerknochen Neandertalern zugeordnet, denn die lebten nachweislich in der letzten Eiszeit im Altaigebirge, oder aber modernen Menschen, die hier, nimmt man an, seit etwa 40 000 Jahren wahrscheinlich ebenfalls umherstreiften und die Neandertaler irgendwann ablösten. Das Fingerknöchelchen selbst ist nicht aussagekräftig genug, um daraus auf die Menscheart zu schließen. Als man sich die DNA vornahm, glaubte man also, man würde entweder typische Neandertaler-Mitochondrien finden oder typisch moderne. Doch Pustekuchen, man fand einen ganz neuen genetischen Typ: Die mitochondriale DNA des Kindes war weder typisch Neandertalid noch typisch für moderne Menschen, sondern von beiden Gruppen weit entfernt. Das Kind aus dem Altai stand uns Heutigen vom Mitochondrientyp her noch deutlich ferner als die Neandertaler.
Eine neue Art also?
Nicht unbedingt. Bei Schimpansen leben in einer einzelnen Gruppe Tiere, die sich
im mitochondrialen Genom genauso stark unterscheiden wie das Altai-Kind von mir oder Ihnen.
Es gibt also auf den ersten Blick keinen Grund, einen archaischen menschlich aussehenden Knochen,
der in der Mitochondrien-DNA sowohl von uns als auch vom Neandertaler abweicht, einer neuen
biologischen Spezies zuzuordnen. Und das tut der Originalartikel der Forscher auch wohlweislich
nicht, er spricht bloß von "Menschenformen" und von "Fortpflanzungslinien".
Nun muss man allerdings berücksichtigen, dass beide bekannte Gruppen,
klassische Neandertaler ebenso wie moderne Menschen, ein ungewöhnlich ausgedünntes
Spektrum an Variation in den Mitochondrien-Genen zeigen. Nur, weil Neandertaler untereinander und
moderne Menschen untereinander mitochondriengenetisch so einförmig sind, lassen sie
sich auch anhand der mitochondrialen DNA unterscheiden.
Man hat die ungewöhnlichen mitochondriale Gleichförmigkeit moderner Menschen zeitweise so
interpretiert, dass alle heutigen Menschen von einer kleinen Gruppe von Afrikanern abstammen,
die vor etwa 300 000 Jahren gelebt hat. Alle klassischen Neandertaler würden analog von einer kleinen Gruppe von europäischen Prä-Neandertalern abstammen. Das ist eine Hypothese.
Doch man kann den Befund auch anders interpretieren: Vielleicht war sowohl bei den Neandertalern als
auch bei uns ein Gutteil Darwinsche Selektion im Spiel, die jeweils einen Mitochondrientyp sich durchsetzen
ließ. Über die Verwandschaftsgeschichte der Menschheit insgesamt würde das dann weniger
aussagen. Für die letztere Hypothese spricht, dass bei einem fossilen modernen Menschen in
Australien bereits DNA gefunden wurde, die nicht Teil des "typischen" heutigen Genpools ist.
Was kann man jetzt für das Altai-Kind schließen?
Dass es sich um eine "neue Art" handelt, ist nicht unmöglich. Doch vorläufig ist das Wahrscheinlichste, dass das Individuum sich in das bekannte Spektrum von eiszeitlichen Menschentypen einordnen lässt. Vielleicht war es ein untypischer Neandertaler und zeigt uns, dass die Neandertaler hier, am Rand ihres Verbreitungsgebiets, noch alte mitochondriale DNA-Varianten bewahrten oder durch genetischen Kontakt mit anderen archaischen Menschen hinzugewannen. Vielleicht war es ein untypischer Homo sapiens, wobei hier betreffs der DNA das gleiche gilt wie für die Neandertaler. Oder wir haben hier ein Exemplar einer späten asiatischen Form des Homo heidelbergensis bzw. erectus, Nachfahren derjenigen Menschen, die durch den etwas älteren Schädel von Dali (China) repräsentiert werden. Dieser Schädel (Bild) hat ein recht großes Gehirn und ein sapiens-ähnliches Mittelgesicht, aber eine sehr archaische Schädeldecke mit riesigen Überaugenwülsten. Man hat solche Menschen früher als "archaischen Homo sapiens" bezeichnet, bevor man anfing, an eine totale Vedrängung aller archaischen Menschen Asiens durch afrikanische Auswanderer zu glauben. Seitdem nennt man archaische Asiaten nicht mehr Homo sapiens, sondern behält diese Bezeichnung Afrikanern und ihren angenommenen Nachfahren vor. Doch diese strikte Trennung der Linien verschleiert vielleicht, dass die Grenzen hier und da fließend waren.Wir haben nämlich nicht nur genetische Indizien zu Identität dieses Kindes. Man kennt schon seit längerem fragmentarische Knochenfunde aus dem Altaigebirge, die von der Form her andeuten, dass manche der hier im spätenden Eiszeitalter lebenden Menschen eine Art Mischform darstellten. Diese Knochen zeigen ein paar Anklänge an Neandertaler, ein paar an moderne Menschen und einiges, was ganz und gar archaisch scheint. Das würde zu allen dreien der oben genannten wahrscheinlichen Szenarien passen.
Ich hoffe, dass in den nächsten Jahren im Altai und generell in Mittelasien noch viel gegraben wird. In dieser schlecht untersuchten Region, deren heutige Bewohner genetisch und phänotypisch zwischen Ostasiaten und Europäern stehen, werden wir bestimmt noch ein paar Überraschungen erleben und auf jeden Fall ein etwas bunteres Bild der Menschen der letzten Eiszeit bekommen, als wir jetzt noch haben.
Quellen:
Johannes Krause et al. (2010), The complete mitochondrial DNA genome of an unknown hominin from southern Siberia, Nature advance online publication 24 March 2010 | doi:10.1038/nature08976.
Hoch Eintrag vom 25.3.2010
"Sprechende" Mäuse: FOXP2-Mutationen und ein vermenschlichtes Nagetier
Zumindest eine der beiden menschlichen Mutationen im Gen FOXP2 ist wirklich eine "Sprachmutation"! Nach mehreren Jahren ist endlich publikationsreif, was eine Untersuchung an "vermenschlichten" FOXP2-Mäusen ergeben hat. Eine große Forschergruppe um Wolfgang Enard vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hatte Mäuseembryonen die menschliche Variante des Gens eingepflanzt. Die Ergebnisse der (wie ich finde) ethisch problematischen Studie haben mich völlig überzeugt.
Ergebnis eins: die genetisch vermenschlichten Mäuse verhalten sich anders
Die Mäuse, die mit einem vermenschlichten FOXP2-Gen in ihren Zellen aufwuchsen, wirkten auf den ersten Blick nicht auffällig. Geduldige Tests brachten an den Tag, dass es aber zumindest kleine Unterschiede im Verhalten gab. Zum einen verhielten sich die genetisch humanisierten Mäuse vorsichtiger als ihre gewöhnlichen Artgenossen, wenn es darum ging, ein neues Territorium zu erkunden. Das war ebenso unerwartet wie schwer zu interpretieren. Außerdem klangen die Fieplaute der Mäuse tiefer als gewöhnlich. Das war ebenfalls unerwartet, aber interessanter: Die Mutationen hatten also einen Einfluss auf die Lautgebung! Mir fällt dazu ein, dass Menschen eine tiefere Stimme haben als Schimpansen – niemand wäre bislang auf die Idee gekommen, das auf ein Hirn-, Darm- und Lungengen wie FOXP2 zurückzuführen. Ich denke aber, dass wir demnächst eine Untersuchung dazu sehen werden.
Nachtrag am 29.5.: Jetzt liegen die Untersuchungen im einzelnen vor. Die Unterschiede in der Stimmlage sind absolut gesehen sehr gering und gehen außerdem bei einem bestimmten Typ von Ruf in die umgekehrte Richtung. (Generaues dazu siehe hier.) Der stimmliche Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen sollte sich also eher nicht auf FOXP2 zurückführen lassen!
Sehr deutlich wird aber bei den Ergebnissen, dass die Rufe der manipulierten und der normalen Mäuse sich tatsächlich unterscheiden, und zwar gleich in mehrerer Hinsicht: in der Stimmlage, der Dauer, und der "Melodie". Diese Unterschiede sind alle nicht sehr groß, aber stark statistisch signifikant, das heißt sie trennen die Gruppe der manipulierten von den unmanipulierten Mäusen so deutlich, dass es kaum auf Zufall beruhen kann.
Ergebnis zwei:
Was ein menschliches FOXP2 bei Mäusen im Gehirn bewirkt
Es ist der neurologische Teil der Ergebnisse, der mich überzeugt hat. Die humanisierten Mäuse mussten dafür (schmerzfrei) ihr Leben lassen. An den Versuchtieren fanden sich im Hirngewebe zweierlei Effekte: Zum einen konnte man nachweisen, dass die Eiweißproduktion in den Zellen beeinflusst wurde, d.h. viele Gene wurden mit veränderter Häufigkeit von der Zelle abgelesen, einige öfter, andere seltener. Da FOXP2 ein Regulatorgen ist, war auf zellulärer Ebene genau so ein Effekt der Mutationen zu erwarten, wenn sie sich denn aufs Gehirn auswirkten. Aber es geht noch weiter: Die veränderte Eiweißsynthese in den Zellen ging auch mit einem veränderten Zellverhalten einher. Die betroffenen Nervenzellen bilden längere und mehr Äste aus als die unmanipulierter Mäuse. Das heißt, diese Neuronen sind in der Lage, mehr und weiter entfernte Verbindungen zu knüpfen. Ein weiterer Effekt ist, dass die Verbindungen dieser Zellen "plastischer" sind als bei normalen Mäusen; ein bestimmter Typ von Reaktion auf elektrische Reize (die Langzeit-Depression) ist bei ihnen stäker ausgeprägt. Man nimmt an, dass dies die Lernfähigkeit verbessert.
Und all diese Veränderungen fanden nicht irgendwo im Gehirn statt. Sondern diese Wirkungen sah man in den Hirnstrukturen, die bei allen bislang untersuchten Tieren zu den Hauptwirkungsgebieten von FOXP2 gehören. Nämlich jenen, die die größte Bedeutung für das motorische Lernen insbesondere für die Feinmotorik des Gesichts und des Mundes besitzen: In den Basalganglien, und hier insbesondere im Striatum. (Die entscheidende Bedeutung der Basalganglien für die Sprache wurde spät erkannt, alles hierzu im Buch ab Seite 48.)
Damit macht das mutierte FOXP2 genau das, was ein zünftiges menschliches Sprachgen tun sollte.
Können die manipulierten Mäuse jetzt wie Menschen sprechen lernen?
Nur Tests und genaue Beobachtung können klären, ob die Mäuse mit ihrem "vermenschlichten" Gehirn etwas anfangen, also ob sie neue Fähigkeiten zeigen. Mit Ausnahme von Alarm- und Drohrufen findet das natürliche Lautverhalten von Mäusen für uns unhörbar im Ultraschallbereich statt. Beispielsweise "singen" Männchen, wenn sie ein begattungsbereites Weibchen in der Nähe vermuten. Ihr "Lied" erinnert an die Vokalisationen junger Singvögel. Mit den kunstvollen Liedern erwachsener Vögel kann es nicht mithalten. Es ließe sich leicht testen, ob die manipulierten Mäuse neue oder kompliziertere Lieder erlernen können. (Jedenfalls, nachdem man neue gezüchtet hat – mir scheint, die bisherigen sind bei der Untersuchung "verbraucht", das heißt, getötet worden.)Hier sei aber daran erinnert, dass Dompfaffen oder Papageien ihre lautliche Lernbegabung auch ohne eine Mutation in FOXP2 erreichen. Bei ihnen scheint der Effekt durch eine Änderung in der Aktivität des Gens ausgelöst zu werden. Die zweite große Gruppe von tierischen Lautlernern, nämlich Fledermäuse, haben für die Feinkontrolle ihrer Ultraschallortung sehr wohl mit der Gensequenz von FOXP2 experimentiert. Allerdings sind ihre Mutationen nicht identisch mit unseren. Auch Fledermäuse sind also kein gutes Modell für die manipulierten Mäuse. Nur eine der beiden menschlichen Mutationen auf dem Gen findet sich überhaupt bei anderen Tieren. Es sind allesamt (wie der Mensch) Fleischfresser. Von Katzen und Hunden sind aber besondere lautliche Fähigkeiten nicht bekannt.
Was wir noch nicht wissen, aber dringend wissen sollten
Wurde der Effekt im Maushirn durch beide menschlichen Mutationen von FOXP2 gemeinsam bewirkt, oder war nur eine von ihnen beteiligt? Dies wäre wichtig für die Datierung der Mutationen. (Siehe zur Datierung hier und hier. Über weitere Mausversuche ließe sich das herausfinden.Zweitens: Das letzte Glied der Beweisführung fehlt noch immer. Bis dato hat man noch keinen Menschen entdeckt, der die alte, unmutierte Primatenvariante von FOXP2 in sich trägt. Das müsste man aber, um genau zu wissen, wie stark sich die FOXP2-Mutationen auf die Sprachfähigkeit auswirken. Jedenfalls, solange die Mäuse nicht tatsächlich zu sprechen anfangen (dann weiß man es auch!). Gibt es solche Menschen überhaupt?
Ja und nein. Viele von uns schleppen bei einigen Genen die Schimpansenvarianten mit sich herum. Nicht nur da, wo sich Gene seit unserem letztem gemeinsamen Vorfahren mit den Schimpansen nicht geändert haben. Sondern auch bei solchen Genen, die im Verlauf der menschlichen Linie mutiert sind. Nicht alle diese Mutationen haben sich bereits in der gesamten menschlichen Bevölkerung durchgesetzt. Die alte Version des Gens ist dann noch Teil unseres Genpools. Das ist allerdings bei FOXP2 nicht der Fall. Hier hat die mutatierte Variante des Gens die ältere völlig verdrängt. Ein Zeichen dafür, wie wichtig die Mutationen sind. Allerdings: Es gibt bei jedem Gen Ablesefehler. Bei sechs Milliarden Menschen auf diesem Planeten kommt fast jeder genetische Fehler irgendwann einmal vor (jedenfalls dann, wenn er nicht zum Tod des betroffenen Embryos führt – was die äffische, altertümliche FOXP2-Variante höchstwahrscheinlich nicht tut). Nun besitzt der Mensch aber zwei Kopien jedes Gens pro Zelle. Von einer Fehlermutation ist meist nur eine betroffen. Bei Menschen mit angeborenen Sprachstörungen wurden schon zahlreiche Fehlermutationen von FOXP2 gefunden. So kam man ja überhaupt darauf, dass es sich hier um ein "Sprachgen" handeln könnte. Die gefundenen Fehler waren jedoch immer solche, die die betroffene Genkopie gänzlich funktionsuntüchtig machten. Hier reichte dann schon eine "kranke" Kopie, um eine schwere Sprachstörung hervorzubringen. Wahrscheinlich hätte die Schimpansenvariante des Gens, wenn sie bei einem Menschen auftritt, keinen so starken Einfluss. Vielleicht müssten beide vorhandenen Genkopien "äffisch" sein, um einen Menschen merklich in der Sprache zu beeinträchtigen. Dass dies natürlich vorkommt, ist recht unwahrscheinlich. Und Experimente am Menschen verbieten sich natürlich.
Wann wird man dem ersten Schimpansenembryo ein menschliches FOXP2 einpflanzen?
Genetische Manipulation an Schimpansen ist um einiges aufwändiger als die an Mäusen und wird praktisch nicht gemacht. Ethikkommissionen dürften auch etwas einzuwenden haben. Ich persönlich würde allerdings einen Schimpansenversuch ethisch beinahe unproblematischer finden als den an Mäusen: dann wäre wenigstens klar, dass man das resultierende Mischwesen lebenslang menschlich behandeln muss. Mäuse hingegen werden als Verschleißobjekte gezüchtet, und das gilt auch für genetisch menschlicher gemachte Tiere.Zum guten Schluss: Die Studie, um die es hier geht, ist noch im Druck. Sollte ich in der fertigen Publikation neue oder andere Informationen finden, als mir jetzt zugänglich sind, werde ich den Beitrag entsprechend überarbeiten.
Quellen:
Enard, W., S. Gehre, K. Hammerschmidt, S.M. Hölter, T. Blass, M. Somel, M.K. Brückner, C. Schreiweis, C. Winter, R. Sohr, L. Becker, V. Wiebe, B. Nickel, T. Giger, U. Müller, M. Groszer, T. Adler, A. Aguilar, I. Bolle, J. Calzada-Wack, C. Dalke, N. Ehrhardt, J. Favor, H. Fuchs, V. Gailus-Durner, W. Hans, G. Hölzlwimmer, A. Javaheri, S. Kalaydjiev, M. Kallnik, E. Kling, S. Kunder, I. Moßbrugger, B. Naton, I. Racz, B. Rathkolb, J. Rozman, A. Schrewe, D. Busch, J. Graw, B. Ivandic, M. Klingenspor, T. Klopstock, M. Ollert, L. Quintanilla-Martinez, H. Schulz, E. Wolf, W. Wurst, A. Zimmer, S.E. Fisher, R. Morgenstern, T. Arendt, M. Hrabé de Angelis, J. Fischer, J. Schwarz and S. Pääbo: A humanized version of Foxp2 affects cortico-basal ganglia circuits in mice. Cell 137, 29.5.2009.
Li G, Wang J, Rossiter SJ, Jones G, Zhang S (2007) Accelerated FoxP2 Evolution in Echolocating Bats. PLoS ONE 2(9) : e900. doi:10.1371/journal.pone.0000900.
Holy, T, Guo Z. (2005) Ultrasonic songs in male mice. PLoS Biology 3(12): e386.
Hoch Eintrag vom 12.4.2009; Nachträge/Updates am 29.5.Sprachfaules "Erectus"-Zungenbein?
Davon berichtet ein Artikel, der im Dezember in einer kroatischen Anthropologenzeitschrift erschienen ist und den ich leider nur als Zusammenfassung vorliegen habe. Die Autoren sind Italiener von der medizinischen Fakultät der Uni Chieti. Das untersuchte Fossil stammt aus Castel di Guido bei Rom, wo in den Achtzigern ein paar Knochenfragmente und zahlreiche Steinwerkzeuge ausgegraben wurden. Offenbar war auch ein großes Zungenbein-Bruchstück dabei, das bislang in der Literatur noch nicht beschrieben. wurde. Von welcher Menschenart stammt es? Die Autoren ordnen es Homo erectus zu. Doch die Liste homininer Fossilien der Uni in Berkeley ist vorsichtiger und gibt "Homo sp." an, das heißt eine unbestimmte Spezies aus dem Genus Homo. Das Alter wird, ohne direkte Datierung, recht unsicher auf 400 000 Jahre geschätzt. Dies ist eine Zeit, in der man in Europa eher Homo heidelbergensis vermutet.
Bei einem Homo heidelbergensis war nicht unbedingt mit dem zu rechnen, was die Forscher bei der Untersuchung des Fragments fanden: Zwar hatte das Zungenbein im Groben die menschliche und nicht die Schimpansenform. (Alles andere wäre bei der bisherigen Datenlage eine Sensation gewesen; zum Hintergrund siehe im Buch S. 77, 87.) Jedoch weichen die Maße im einzelnen von heutigen menschlichen Zungenbeinen wie auch von dem Neandertaler-Exemplar aus Kebara ab. Und vor allem seien so gut wie keine Muskelabdrücke auf der Vorderseite des Knochens erhalten! Das, so die Autoren, zeige, dass die Zunge bei dem Toten wenig beweglich gewesen sei. Sie vermuten daher, "dass die körperlichen Grundlagen der menschlichen Sprache nicht bei Homo erectus entstanden."
Das ist ein aufregendes Puzzlestück, das einiges neu aufmischt. Doch die Unsicherheit der Datierung und Zuordnung machen die Interpretation schwer. Und dann gibt es ja noch die Arbeit von Ignacio Martínez und Kollegen, die bei mehreren, ca. 600 000 Jahre alten Heidelbergensis-Zungenbeinen aus Atapuerca keine merklichen Unterschiede zu heutigen Menschen fanden. Es gilt wohl erst einmal abzuwarten, was die Überprüfung der neuen Ergebnisse durch andere Wissenschaftler ergibt.
Nachtrag vom 24.2.09
Weil ich die Untersuchung so merkwürdig fand, habe ich Ignacio Martínez dazu befragt, den Gewährsmann für die ca. 600 000 Jahre alten Zungenbeine von Atapuerca. Er ist einer der erfahrensten Experten für mittelaltsteinzeitliche europäische Menschen. (Zu seinem wichtigsten Beitrag zum Thema Sprachevolution siehe im Buch Kapitel 6.) Martínez ist sehr skeptisch bezüglich der italienischen Untersuchung und ihrer Schlüsse. Er verweist darauf, dass Zungenbeine auch beim modernen Menschen sehr variabel seien. (Für seine eigene Untersuchung der Fossilien von Atapuerca hatte Martínez knapp 80 moderne Zungenbeine zum Vergleich herangezogen, weiß also, wovon er spricht.) Es komme, so Martínez, auch bei heutigen Menschen vor, dass keine Muskelabdrücke am Zungenbein zu erkennen seien.
Damit ist aus meiner Sicht das einzige stichhaltige Argument der italienischen Forscher dahin. Ansonsten haben sie anscheinend nichts zu bieten. Sie schreiben zwar, dass die Maße ihres Fossils "von den Mittelwerten bei modernen Menschen abweichen", aber das tun Ihr und mein Zungenbein höchstwahrscheinlich ebenfalls. Ein Abweichen vom Mittelwert ist für eine Einzelmessung der Normalzustand. Bemerkenswert wäre lediglich, wenn das untersuchte Zungenbein außerhalb der Variationsbreite heutiger Menschen läge. Vielleicht meinten die Autoren das ja; ich hatte es zunächst so angenommen, weil alles andere eine Nullmeldung wäre. Doch fachlich korrekt gesagt haben sie es in ihrer Zusammenfassung nicht.
Ich denke jetzt erst recht, dass man diese Untersuchung getrost ignorieren kann, bis andere Forscher das Fossil in den Händen hatten.
Literatur
Das Neandertaler-Genom
Die Pressekonferenz vom 12. 2. zu diesem Thema ist für mich ein Anlass, mich trotz Zeitmangels aus dem Winterschlaf zu melden. Worum geht's? Svante Pääbo und seine Forschergruppe am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben den Zeitpunkt eines wichtigen Kongresses in Chicago genutzt, um der Welt zu eröffnen, dass sie gut sechzig Prozent des Neandertaler-Genoms gelesen haben. Der Rest dürfte im Lauf des Jahres folgen. Der Dank dafür geht an außergewöhnlich gut erhaltene Knochen zweier Neandertaler-Frauen aus Kroatien, an neue, hocheffiziente Genlesemaschinen, die kleinste Schnipselchen eines kaputten Gens noch aufspüren können -- und an uns, die Steuerzahler, die wir den Millionen teuren Spaß finanziert haben. Spannend war die Pressekonferenz tatsächlich. Was hat der geneigte Zuschauer gelernt?
Ergebnis eins:
Das "Sprachgen"
FOXP2 ist ein Gen, das die Hirnentwicklung und die lautliche Kommunikation von Tieren beeinflusst. Beim heutigen Menschen tritt es in einer mutierten Variante auf, von der man glaubt, sie könnte dazu beigetragen haben, uns sprachfähig zu machen. (Alle Details im Buch.) Die ursprüngliche These war, dass archaische Menschenarten diese Genvariante noch nicht besaßen. Das geriet ins Wanken, als dasselbe Gen in Knochen zweier männlicher Neandertaler aus Spanien gefunden wurde. Allerdings erschien das manchen damals (2007) so unwahrscheinlich, dass sie an einen Fehler glaubten: War versehentlich DNA der modernen Forscher in die Sequenziermaschine geraten?
Natürlich hatten die Forscher Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um eine Verunreinigung ihrer Proben zu vermeiden. Doch definitiv ausschließen lässt sich moderne Verunreinigung nie. Deshalb waren ich und viele andere sehr gespannt darauf, welche Variante von FOXP2 die Leipziger Forscher bei den Neandertalerfrauen aus Kroatien finden würden, die sie für ihr Neandertaler-Genomprojekt hauptsächlich benutzen. Pääbo hat auf der Pressekonferenz das Resultat verkündet: Die Sequenziermaschinen fanden auch in dem kroatischen Neandertalermaterial die mutierte Variante des "Sprachgens". Es wäre schon ein dicker Zufall, wenn bei den kroatischen und den spanischen Knochen die gleiche Verunreinigung passiert wäre -- zumal in Pääbos Labor die Verunreinigungsrate nachweislich unter einem Prozent lag. (Man hat das mit Testsequenzen ausgelotet, von denen man schon wusste, dass sie in echter Neandertaler-DNA nicht vorhanden sein durften.) Man kann heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass die späten Neandertaler die Mutationen besaßen. Pääbo ging in der Pressekonferenz auf die Datierungsproblematik (siehe hier) nicht ein. Er glaubt, die Mutationen gebe es seit den gemeinsamen Vorfahren von heutigen Menschen und Neandertalern. Doch wann lebten die eigentlich?
Ergebnis zwei:
800 000 Jahre, die angebliche Urmutter und ein Missverständnis
Pääbos Neandertalerergebnisse deuten darauf hin, dass bis etwa vor 300 000 Jahren die Vorfahren der Neandertaler noch eine zumindest lockere Fortpflanzungsgemeinschaft mit unseren Vorfahren bildeten. Sie haben in der Presse etwas anderes gelesen? Ich auch. Seit Pääbos Neandertaler-Offenbarungen vom Donnerstag heißt es hie und da, die Neandertaler-Linie und unsere hätten sich schon vor 800 000 Jahren getrennt. Wer die Pressekonferenz genau verfolgt hat, weiß, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Tatsächlich geschah laut Pääbos Gruppe die Trennung erst vor etwa 300 000 Jahren -- eine schlappe halbe Million Jahre später! Kein Wunder allerdings, dass das Missverständnis mit den 800 000 Jahren aufkam. Denn die Sache ist vertrackt. Doch sie lässt sich mit ein bisschen Hintergrundwissen nachvollziehen.
In der Pressekonferenz wurden in der Tat 830 000 Jahre genannt. Dies ist der Zeitpunkt in der Vergangenheit, an dem die bislang gelesenen Neandertalergene durchschnittlich ihren letzten gemeinsamen Vorfahren mit den entsprechenden DNA-Abschnitten eines beliebig ausgewählten modernen Menschen hatten. Hoppla! Heißt das nicht, die Neandertaler haben sich vor 830 000 Jahren von unseren Vorfahren abgespalten? Nein. Um diese 830 000 Jahre einordnen zu können, muss man bedenken, dass auch innerhalb einer Fortpflanzungsgemeinschaft nicht jeder exakt die gleichen Gene hat. Auch Sie und ich, wir unterscheiden uns! Und zwar immerhin so stark, dass man im Schnitt bei zwei beliebig ausgewählten Europäern 550 000 Jahre Mutationsgeschichte zurückgehen muss, bis man deren DNA-Sequenzen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückführen kann. (Siehe die Tabelle, die Pääbo in der Pressekonferenz dazu zeigt.)
"Wie?", fragen Sie jetzt, "wieso 500 000 Jahre? Gab es denn nicht diese Urmutter aller modernen Menschen, die vor 180 000 Jahren oder so gelebt haben soll? Mitochondriale Eva, oder wie sie hieß?"
Korrekt. Doch die "mitochondriale Eva" repäsentiert bloß die Geschichte eines kleinen DNA-Abschnittes. Zudem eines, der auf ungewöhnliche Weise vererbt wird. Heute weiß man: Andere Gene haben andere Geschichten. Wie kommt's? Die "mitochondriale Eva" ist zwar die Urmutter aller modernen Mitochondrien, also der Zellkraftwerke. Aber ansonsten haben wir womöglich nicht ein einziges Gen von ihr geerbt! "Eva" hatte nämlich viele Zeitgenossen, die ebenfalls als die Vorfahren aller heute lebenden Menschen gelten können. Es sind eben diejenigen aus der damaligen Bevölkerung, die zufällig in jeder folgenden Generation mindestens einen Nachkommen hatten -- ein paar tausend Jahre später ist dann der Stammbaum so weit verzweigt, dass jeder lebende Mensch entfernt mit diesen Vorfahren (und deren Vorfahren) verwandt ist. Von diesen Zeitgenossen der mitochondrialen Eva haben wir ebenfalls genetisches Material abbekommen. Weil sich diese Vorfahren genetisch unterschieden, haben sie ab und an Varianten desselben Gens bis heute weitergegeben, die damals schon nebeneinander existierten, sich also von einem gemeinsamen Vorläufergen bei einem noch viel älteren Vorfahren abgespalten hatten. Zum Beispiel haben moderne Menschen Varianten eines Gens für dunkle Haut, deren gemeinsamer Ursprung vor etwa 1,2 Millionen Jahre liegt. Andere Genvarianten sind erst in neuerer Zeit entstanden und lassen sich darum auf einen sehr jungen gemeinsamen Vorfahren zurückführen. So beispielsweise das europäische Laktosetoleranzgen (bekannt aus dem Biounterricht, und siehe unten), das bloß ein paar tausend Jahre Geschichte auf dem Buckel hat.
Der durchschnittliche genetische Abstand zwischen zwei heutigen Europäern beträgt also gut 550 000 Jahre. Zwischen Europäern und Chinesen sind es unwesentlich mehr; geht man aber nach Afrika, zu Bevölkerungen, von denen man weiß, dass sie sich früh abgespalten haben, dann kommt man – siehe Pääbos Tabelle — auf durchschnittlich knapp 700 000 Jahre genetischen Abstand zur "menschlichen Referenzsequenz", die Pääbo zum Vergleich mit den Neandertalern verwendet hatte. Wenn also bei Neandertalern 830 000 Jahre Abstand errechnet werden können, dann ist das gar nicht viel mehr als die Abstände, die sich zwischen Afrikanern und Europäern beobachten lassen. Überraschend, oder?
Ergebnis drei:
Neandertaler – auch nur Menschen?
Svante Pääbo hat angedeutet, er habe noch das eine oder andere Schmankerl in Petto, das er sich für die spätere Publikation in einer der teuren Zeitschriften vorbehält. Ich warte mit Spannung. Was er auf der Pressekonferenz vorgetragen hat, das lässt Neandertaler fast langweilig erscheinen. Es kann nach diesen Daten gut sein, dass sich hinter ihrer rustikalen Physiognomie bloß eine etwas isolierte Menschengruppe verbirgt, die sich in nichts Wesentlichem von uns Modernen unterscheidet. Nach Pääbo liegen die Neandertaler bei den meisten Genen nämlich innerhalb der Variation moderner Menschen. Das heißt, wenn ein Gen bei heutigen Menschen in einer alten und einer neuen Variante existiert, dann findet sich meist auch bei Neandertalern die neue Variante, bloß ist sie eine Spur seltener als bei uns. Um es in Prozenten auszudrücken: Wenn man den genetischenen Abstand zwischen Menschen und Schimpansen als 100 % nimmt, dann unterscheiden sich zwei Europäer um gut 8 %, Afrikaner wie Mbuti oder San weichen um 10,5 bis 10,7 % von einem beliebigen Beispielmenschen ab, die Neandertaler um 12,8 %. Da kann es Ihnen statistisch gesehen passieren, dass Sie rein zufällig mit einer von Pääbos kroatischen Neandertalerfrauen mehr genetische Ähnlichkeiten haben als mit einem bestimmten modernen Menschen (so wie es einem Europäer mit einer gewissen Häufigkeit passiert, dass er zufällig mehr Genvarianten mit einer bestimmten Person aus dem Kongo teilt als mit der hellhäutigen europäischen Familie in der Nachbarwohnung).Aber wenn sie sich so ähnlich waren, die Modernen und die Neandertaler, warum haben sie dann vor 40 000 Jahren nicht miteinander geschnackelt, wie man in Adelskreisen sagt?
Ergebnis vier:
Haben sie oder haben sie nicht?
In vielen Presseberichten wird das zum Aufhänger gemacht. Doch hier gab es eigentlich nichts Neues. Pääbos Gruppe hat keine direkten Belege für Vermischung zwischen modernen Einwanderern und Neandertaler-Urbevölkerung gefunden (es sei denn, FOXP2 wäre ein solcher, siehe unten.) Das Umgekehrte, nämlich moderne Gene in Neandertalern, will man noch untersuchen. Bei der großen genetischen Ähnlichkeit zwischen beiden Gruppen fürchte ich, dass man sich etwas schwer tun wird. Hinzu kommt, dass sich ein bisschen Vermischung nicht gut nachweisen lässt.
Rätselhaft finde ich inzwischen, dass laut den genetischen Berechnungen bis vor 300 000 Jahren eine Fortpflanzungsgemeinschaft zwischen unseren und ihren Vorfahren bestand, die danach abbrach. Warum? Der Spekulationen gäbe es viele, ich erspare sie Ihnen und warte auf neue Ergebnisse.
Quellen:
Livestream der Pressekonferenz des MPI-EVA am 12.2.2009Rogers, Alan R., et al. (2004), “Genetic variation at the MC1R locus and the time since loss of human body hair”, Current Anthropology 45 (1): 105-108.
Hoch Eintrag vom 17.2.2009Zweifel an der neuen Datierung
von FOXP2
Die äußert Carles Lalueza-Fox, der an der genetischen Untersuchung der Neandertaler von El Sidrón an vorderster Front beteiligt ist. Mein Blogger-Kollege Martín Cagliani vom spanischen Blog „Mundo Neandertal“ hat den Genetiker zu den neueren Berechnungen (siehe unten, "Nachgerechnet bei FOXP2") befragt. Lalueza-Fox hatte für die Suche nach dem „Sprachgen“ FOXP2 der Neandertaler die Proben mit entnommen; bei der Studie über das Neandertaler-Pigmentgen MC1R war er federführend.
Er weist darauf hin, um das Gen FOXP2 lägen wohl die Spuren mehrerer Selektionswellen (siehe meinen Hinweis auf eine solche Möglichkeit im Buch, S. 104 oben). Von denen sei nur eine 42 000 Jahre jung. Es gebe aber inzwischen Hinweise, dass die berühmten menschlichen Mutationen in FOXP2 mit den älteren und nicht den jüngeren Datierungsmarken zusammenhingen. (Ich meinerseits möchte ergänzen, dass die beiden fraglichen Mutationen selbst nicht gleichzeitig entstanden sein müssen.) Das hört sich so an, als könne an der leider noch unveröffentlichten Kritik von Rebecca Cann an der ursprünglichen, ebenfalls jungen Datierung von Enard doch etwas dran sein. Zu den meisten anderen Indizien über die Entstehung der Sprache würde ein höheres Alter der Genvariante ohnehin besser passen. Jedenfalls, wenn es sich tatsächlich um sprachfördernde Mutationen handelt. Das allerdings wissen wir noch immer nicht. Ausführlicher äußert sich Lalueza-Fox in dem Interview zu der Frage, ob die Entdeckung der modernen Genvariante in den Neandertalern von El Sidrón nicht doch auf Verunreinigung der Proben beruhen könne. Diesen Verdacht hatte die jüngst erschienene Berechnung wieder aufgebracht. Denn mit einem angeblichen Alter von nur 42 000 Jahren war die Genvariante ja zu jung, um aus der Zeit vor der Trennung von Neandertaler und Homo sapiens zu stammen. Ich habe unten schon angesprochen, dass eine Verunreinigung dennoch sehr unwahrscheinlich ist. Das sieht Lalueza-Fox ausdrücklich so. (Für die Hintergründe zu FOXP2 konsultieren Sie bitte S. 48-60 und 101-105 im Buch!) Hoch Eintrag vom 26.4.2008Für HNO-Spezialisten:
Lieberman streitet sich
Ich hatte ja unten („Falschzüngige Neandertaler“) versprochen, für die Interessierten an der wieder aufgeflammten Kehlkopf-, Rachen- und Zungendebatte etwas nachzuliefern. Nämlich ein paar Details dazu, was eigentlich Philip Lieberman jüngst an der Studie des französisch-japanischen Teams unter Leitung von Louis-Jean Boë zu kritisieren hatte – jener Studie, die für den Neandertaler wesentlich besser ausgegangenen war als McCarthys Simulation. Die Antwort der Autoren dieser Studie auf die Kritik Liebermans will ich Ihnen auch nicht vorenthalten.
Die Kritik
Liebermans Hauptpunkt: Boë und Co. hätten ihrem simulierten Neandertaler einfach einen Stimmtrakt mit modern-menschlichen Proportionen in den Hals gesetzt, mit dem Längenverhältnis 1:1 zwischen Rachenraum und Mundraum. Kein Wunder, dass der gut habe sprechen können! Es sei jedoch unzulässig, einfach dieses Verhältnis auf Neandertaler zu übertragen.Und vor allem: Um bei Neandertalern mit ihrer langen Mundhöhle das Längenverhältnis 1:1 zu erreichen, hätten Boë und seine Gruppe den Kehlkopf so tief in den Rachen gesetzt, dass er bei den kurzen Hälsen der Neandertaler im Brustkorb gelandet wäre. Das hätte das Schlucken unmöglich gemacht. (Ironie der Geschichte: Liebermans eigene ursprüngliche Rekonstruktion hatte ebenfalls ein Schluckproblem, weil das Zungenbein zu hoch angesetzt war.) Ergo, so Lieberman 2007: Die Simulation von Boë gehe von falschen anatomischen Voraussetzungen aus.
Das ist ganz der Tenor der Kongressvorträge von McCarthy (siehe unten), der sich hier offenbar als Sprachrohr Liebermans betätigt.
Die Antwort von Boë
Dumm nur, dass diese Kritik an der Studie von Boë und Co. haarscharf vorbeigeht. Vergrätzt bis verwundert geben sich die Autoren in ihrer Antwort, nachdem sie allerdings 2002 ihrerseits Lieberman und Mitstreiter scharf angegangen waren. Ich fasse einmal die beiden wichtigsten Punkte ihrer Reaktion zusammen.Zweitens: Ein wichtiges Ergebnis der Studie von Boë war gerade gewesen, dass das Mund-Rachen-Verhältnis in Wahrheit kaum Einfluss auf die Artikulationsfähigkeit hat. Vielmehr sei die Beweglichkeit von Lippen, Unterkiefer und Zunge entscheidend. Die Untersuchungen Liebermans hätten nicht bedacht, dass man die simulierten Neandertaler mit verschiedenen Mundbewegungen experimentieren lassen muss. Denn mit an die jeweilige Mundform angepassten Lippen- und Zungenbewegungen – also nicht unbedingt den gleichen, die Sie oder ich bei den jeweiligen Lauten machen -- könne man immer maximal kontrastierende Vokale produzieren. Gleich, bei welchen Längenverhältnissen in Mund und Rachen. Sogar Neugeborene könnten alle Laute sprechen. Dabei haben sie noch „äffische“ Proportionen. (Offenbar gehen die Autoren davon aus, dass es sich bei den nicht getesteten Neandertalerfrauen und -kindern nicht schlimmer verhielt als bei heutigen Neugeborenen – hierzu hätte ich jedoch zu gern auch einmal ein anatomisches Modell gesehen. Ein Manko aller dieser Studien ist, dass sie Frauen und Kinder der Altmenschen gänzlich außer acht lassen.) Aus dem Kreis des Teams gibt es zu dieser Frage inzwischen auch Nachfolgeuntersuchungen mit simulierten Neugeborenen und Schimpansen. Also erneut eine Bestätigung dessen, was eigentlich seit Fitchs Kehlkopf-Röntgenaktionen (im Buch S. 78-80) klar ist: Für die Artikulation ist das Gehirn wichtiger als die Mund-Rachen-Anatomie.
Was sollen wir denn nun glauben?
Vom allem muss man erst einmal warten, nämlich auf die Publikation von McCarthy, die erst ein Urteil über sein Modell erlauben wird. Natürlich hätte man zu gerne, dass sich Boë und McCarthy einmal zusammensetzen und sich ansehen, wo denn ihre akustischen Modelle auseinandergehen und warum. Doch es ist zu befürchten, dass dieses Wunder nie geschieht.Wenn man ganz vorsichtig sein will, kann man sich auf das stützen, was unstreitig zwischen beiden Parteien ist: Erstens, auch die Neandertaler Robert McCarthys hätten von ihrer Mund-Rachenanatomie her sprechen können: Es geht auch ohne maximal kontrastierende Vokale (wenn auch die Verständlichkeit leidet – ich bin sehr gespannt auf den simulierten ganzen Satz, an dem McCarthy, so sagt er, derzeit arbeitet.) Und umgekehrt: Die beiden simulierten männlichen Neandertaler Boës hätten zwar maximal kontrastierende Vokale sprechen können. Aber zumindest einer von beiden (nämlich der alte Herr aus La Chapelle-aux-Saints) hätte dafür mehr oder andere Zungengymnastik treiben müssen als wir. Außerdem hätten er sich für uns ungewohnt angehört.
Zum Hintergrund: Bei uns sprechen Kinder, Frauen und Männer akustisch unterschiedliche Vokale (dazu im Buch auf S. 75.). Wir nehmen das nur deshalb nicht wahr, weil wir von klein auf daran gewöhnt sind, ein a von einem Mann in die gleiche Kategorie zu stecken wie das a eines Kindes. Die unterschiedlichen Klänge liegen hauptsächlich an den unterschiedlichen Stimmtraktlängen und -proportionen. So werden bei langem Stimmtrakt die Obertöne der Vokale zusammengedrägt, das Frequenzspektrum wird sozusagen gestaucht – die Stimme wirkt „dunkel“. (Falls Wörter wie „Obertöne“ und „Frequenzspektrum“ Sie irritieren, sehen Sie im Buch ab S. 89 nach, da wird ganz einfach erklärt, warum wir ein a von einem u unterscheiden können.) Bei erwachsenen Neandertalern à la Boë haben wir eine Kombination, die ungewohnt für uns ist: durch die Länge des Stimmtrakts hören wir eine sehr „dunkle“, hypermännliche Klangfarbe, die aber mit den Proportionsverhältnissen eines Kindes einhergeht. Kann sein, dass ein paar Tage Einhören vonnöten wären, bevor man diese Klänge richtig einordnen kann.
Ich habe mir übrigens anlässlich der neuerlichen Debatte ein paar Datensammlungen zu Mund- und Rachenmaßen lebender und ausgestorbener Menschen angesehen. Sehr interessant. Doch dazu ein andermal.
Literatur:
Man konsultiere die Liste unten sowie zusätzlich:Ménard, L., et al. (2004): Role of vocal tract morphology in speech development: perceptual targets and sensorimotor maps for synthesized French vowels from birth to adulthood. Speech, Language and Hearing Research 47:1059-80. Link
Falk, D.S. (1975): Comparative anatomy of the larynx in man and the chimpanzee. Implication for Language in Neanderthal. American Joural of Physical Anthropology 43: 123-132. pdf-Link, alternativ Zusammenfassung hier. Hoch Eintrag vom 20.4.2008Ein Neandertaler knarzt ein i
…oder versucht es
Robert McCarthy hat seine neue, umstrittene Simulation (siehe unten, „Falschzüngige Neandertaler“)
im New Scientist
online gestellt. Sie können den wie üblich männlichen Neandertaler auch
hier knarzen hören.
Nein, man erkennt das i wirklich nicht. (Warum die Stimme sich so zum Fürchten anhört, finden Sie im Buch
auf S. 78-81.)
Zum Vergleich gibt es auch noch McCarthys Simulation eines
modernen Mannes beim i-Sagen.
Ich finde übrigens, dieses moderne i hört sich ebenfalls hier nicht ganz so
„i-ig“ an, wie ich von diesem eigentlich ausgezeichnet zu identifizierenden
Vokal erwartet hätte. (Siehe zum den Besonderheiten von i im Buch S. 75.)
Für die, die im New Scientist oder anderswo in den Medien nachgesehen haben und sich
beschweren wollen, der Laut sei dort als e ausgewiesen: Doch,
es soll wirklich ein i sein und kein e!
(In der anglophonen Welt schreibt sich i eben e. Wenn man es i schreiben würde, würde es
jeder ai aussprechen!) Mit e hätten Neandertaler auch nach
McCarthys Simulation und der uralten von Lieberman keine Probleme. Die Debatte
dreht sich um die „quantalen“ – das heißt mit anderen maximal kontrastierenden
– Vokale a, i und u. (Zur deren Bedeutung für das Sprachverständnis
siehe im Buch S. 65-76.)
Literatur:
Callaway, E. (April 2008): Neanderthals speak out after 30 000 years. New Scientist. Link
Hoch Eintrag vom 20.4.2008Nachgerechnet bei FOXP2:
Die Neandertaler haben es von uns - oder wir von ihnen!
Seitdem im letzten Jahr die heutige menschliche Variante des „Sprachgens“ FOXP2
(dazu im Buch S. 48-61) in Neandertalerknochen entdeckt wurde, hatte man angenommen,
dass diese mutierte Variante schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren der beiden Arten
existierte. Damit wäre sie mindestens 300 000 Jahren alt und wahrscheinlich älter.
Denn 300 000 Jahre sind der späteste Zeitpunkt, zu dem beide Gruppen sich noch nicht in
zwei weitgehend getrennte genetische Linien aufgespalten hatten. Das zeigen die im
letzten Jahr durchgeführten großangelegten Vergleiche zwischen unserer und der noch
erhaltenen Neandertaler-DNA, und dafür sprechen auch die Fossilien, die erste Anzeichen
einer Aufspaltung sogar schon vor 600 000 Jahren zeigen.
Jetzt wurde, übrigens schon zum zweiten Mal, berechnet, wie alt denn die letzte Selektionswelle bei diesem Gen ist – der Zeitpunkt also, an dem die heutige menschliche Variante anfing, sich in der Bevölkerung durchzusetzen.
Die Methode
Wie berechnet man so etwas? Ich vereinfache hier, doch ungefähr läuft es so ab: Man sieht sich die nicht-codierenden Elemente an, die um das Gen herum oder zwischen den abzulesenden Genabschnitten liegen. Wenn sich eine vorteilhafte Mutation verbreitet, verbreitet sich mit ihr eine bestimmte Basensequenz an diesen nicht-codierenden Abschnitten – die Basenqequenz nämlich, die der erste Träger der vorteilhaften Mutation hier zufällig besaß. Später werden diese nicht-codierenden Bereiche wieder uneinheitlich. Denn hier, anders als auf dem eigentlichen Gen, können sich ohne Schaden für die Träger im Laufe der Jahrtausende eine Menge Mutationen ansammeln. Je nachdem, wie viele es sind, wie stark sich also heutige Menschen hier unterscheiden, sagt das etwas über den Zeitpunkt, an dem es zuletzt eine einheitliche Variante gab.
Das ist das Prinzip der molekularen Uhr. Eine vorteilhafte Mutation setzt sie in der Umgebung des betroffenen Gens sozusagen auf Null.
Das Ergebnis der neuen Rechnung
Das Ergebnis war zur Überraschung vieler, mich selbst eingeschlossen, im Prinzip das gleiche wie bei dem allerersten noch etwas groben Versuch, die Mutation zu datieren: Sie war definitv jünger als 250 000 Jahre, und mit einiger Wahrscheinlichkeit sogar sehr viel jünger. Als statistisch wahrscheinlichsten Wert geben die Autoren 42 000 Jahre an – ziemlich exakt das Alter der beiden spanischen Neandertaler, bei denen man das Gen im letzten Jahr sequenziert hatte.
Diese übrigens männlichen und wahrscheinlich von Artgenossen gegessenen Exemplare trugen wohlbemerkt nicht nur die typisch menschlichen Mutationen in dem codierenden Abschnitt. Auch in den nicht codierenden Bereichen des Gens waren bei ihnen typische heutige menschliche Muster zu erkennen. Es handelt sich also definitiv um unsere Genvariante, nicht um eine Parallelmutation, die bei Neandertalern und modernen Menschen unabhängig voneinander entstanden wäre. (Das Gegenbeispiel ist das Pigmentationsgen MC1R, das ebenfalls im letzten Jahr bei einem der Neandertaler aus El Sidrón gefunden wurde: Hier hatte der Neandertaler eine Variante des Gens, die bei heutigen Menschen gar nicht vorkommt – wiewohl der Effekt uns wohlbekannt ist: Die Mutation des Neandertalers griff in die Pigmentsynthese ein, so dass wenig dunkles und viel rötliches Melanin entstand. Sprich, der Neandertaler hatte wohl rote Haare.)Bei dem „Sprachgen“ FOXP2 ist es jedoch anders. Die Neandertaler von El Sidrón und wir heutigen Menschen haben keine unabhängigen Varianten mit gleicher Funktion, sondern wir haben die gleiche Genvariante von den gleichen Vorfahren geerbt. Und die Bestätigung der jungen Datierung macht es unwahrscheinlich, dass diese Vorfahren älter sind als zweihunderttausend Jahre. Wiewohl das eigentlich nicht sein kann, denn zu dem Zeitpunkt hatten sich die beiden Linien ja schon längst aufgespalten.
Wie kommt das Gen in die Neandertaler?
Eines vorweg: Es gibt Kritiker der jungen Datierung, nämlich Rebecca Cann , eine Pionierin der Forschung über molekulare Uhren, und ihr Kollege Karl Diller, die die ganze Rechnung mit einem Denkfehler behaftet sehen. Nach Ihnen ist die Genvariante sehr wohl älter als zweihunderttausend Jahre. Zu Anfang sprachen sie von 1,5, inzwischen von 1,8-1,9 Millionen Jahren, die unser FOXP2 zurückreiche. Demnach wäre es nicht gerade überraschend, diese Genvariante in einem Neandertaler zu finden. Allerdings haben Cann und Diller ihre Gegenrechnung noch immer nicht offiziell publiziert, was mir inzwischen doch eine Spur verdächtig vorkommt. Gehen wir im Folgenden also einmal davon aus, dass die junge Datierung der Konkurrenz tatsächlich stimmt. Wie kommt dann das moderne Gen in die Neandertaler? Die eine, banale Antwort wäre: Es war Verunreinigung bei der Probenentnahme. Ganz auszuschließen ist das leider nicht. Nichtsdestotrotz müsste es hier schon mit dem Teufel zugehen, denn die Vorsichtsmaßnahmen waren stringent. Das Probenmaterial waren steril aus einem Neufund entnommen worden (also nicht etwa aus einem Knochen, der schon seit Jahrzehnten von Forscherhänden betatscht worden war), Tests auf bereits bekannte neandertalerspezifische Gensequenzen hatten in der Probe überall die Neandertalervariante und nicht die moderne gefunden – keine Frage, dass sich fast ausschließlich Neandertaler-DNA in der Probe befand. Am Ende wurde das Ergebnis von unabhängigen Laboren überprüft und bestätigt.Sicher, Tests an weiteren Neandertalern wären zu begrüßen. Doch ohne gegenteiligen Beleg muss man erst einmal annehmen, dass der Genfund echt ist. Bleibt wiederum die Frage: Wie kommt der Neandertaler zu unserem Gen? Oder umgekehrt, wie kommen wir zu seinem? Für Laien kein so schweres Rätsel.
Die in dem neuen Artikel vorgeschlagene, beim derzeitigen Stand plausibelste Antwort lautet: Introgression. Introgression, wörtlich: „Eindringen“, „Eingehen“ ist ein genetischer Fachausdruck. Er steht für die Weitergabe einzelner hochvorteilhafter Gene über Artgrenzen oder sonstige Bevölkerungsgrenzen hinweg. (Das geht natürlich nur bei eng verwandte Gruppen, die die Fortpflanzungsfähigkeit miteinander noch nicht verloren haben, wie etwa Bonobos und Schimpansen und - höchstwahrscheinlich – auch Homo sapiens und Homo neanderthalensis.)
Wenn eine Mutation sehr vorteilhaft ist, kann sie selbst bei nur minimaler Vermischung von einer Fortpflanzungsgemeinschaft in eine andere springen. Ein einziger fruchtbarer Geschlechtsverkehr zwischen einer modernen Frau und einem Neandertalermann (oder umgekehrt) kann bei einem hochvorteilhaften Gen schon ausreichen, um ein solches Gen in die jeweils andere Gruppe einzuschleusen und es dort zu verbreiten. Die durchschnittlich „fitten“ Genvarianten des einen Mischlings würden im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende in der Masse der fremden Gene untergehen und verschwinden. Das eine, hochvorteilhafte Gen jedoch würde einen Siegeszug antreten und sich in der fremden Gruppe, in die es eingeschleust wurde, durchsetzen. Bei Pflanzen sieht man diese sehr selektive Übernahme von Genen aus einem fremden Genpool öfter, etwa bei Resistenzgenen gegen Unkrautvernichtungsmittel. Doch in den letzten Jahren wurde die Introgression einzelner fremder Gene auch bei Säugetieren nachgewiesen. Auch bei uns.Microcephalin: Ein Beispiel für Introgression beim Menschen
Im Buch (S. 104) ist vom Microcephalin-Gen die Rede, das die Gehirnröße regeln hiflt. Bei uns befindet es sich mitten in der Evolution (wie viele andere Gene auch, siehe unten). Eine in Europa oder Westasien erstmals aufgetauchte mutierte Variante ist dabei, die alte zu verdrängen (derzeit ist sie schon bei 70 % der Weltbevölkerung vorhanden, wahrscheinlich auch bei Ihnen, wenn Sie genetisch Europäer sind). Im Buch diente das Microcephalin-Gen als Beispiel, dass vorteilhafte Mutationen an hirnwichtigen Genen nicht unbedingt dramatische, auf den ersten Blick sichtbare Folgen haben müssen – denn beide, Träger der Mutation und nicht-Träger, sind „ganz normale Menschen“. Inzwischen ist die Geschichte der Microcephalin-Mutation genauer untersucht worden. Dabei stellte sich heraus: Die Umgebung des Gens weicht bei der mutierten Variante stark von den Mustern ab, die sich bei Menschen ohne die Mutation finden. Und zwar ist die Abweichung so krass, dass die mutierte und die nicht mutierten Linien ihren letzten gemeinsamen Vorfahren vor etwa 1,1 Millionen Jahren hatten. Zugleich ließ sich zeigen, dass alle mutierten Microcephalin-Gene von einem einzigen Individuum abstammen, das vor etwa 37 000 Jahren gelebt hat. Wie geht das zusammen? Die Autoren der Studie machen es schon in ihrer Überschrift klar: „Das Gen Microcephalin ist aus einer archaischen Homo-Linie in Homo sapiens eingedrungen.“ Nach der Auswanderung aus Afrika trafen unsere Vorfahren in Europa oder Westasien auf Altmenschen, von denen sie genetisch lange getrennt gewesen waren, mit denen sie sich aber nun gelegentlich vermischten. (Neandertaler sind ein klarer Kandidat.) Dabei fingen sie sich eine bei dieser Gruppe entstandene Mutation im Microcephalin-Gen ein, die sich als vorteilhaft erwies.
FOXP: Wer von wem? Und wann?
Nach derzeitigem Stand kann es bei FOXP2 ebenso gewesen sein wie beim Microcephalin-Gen. Haben also wir die FOXP2-Mutationen von den Altmenschen, und nicht etwa die Neandertaler von uns? Bei FOXP2 fehlt (noch) eine unmutierte Vergleichssequenz, deshalb lässt sich das leider nicht sagen. Beides ist möglich: Entweder wir haben das mutierte Gen, kurz, nachdem es bei uns entstand, bei den Neandertalern eingeschleppt. Oder wir haben uns das Gen von ihnen geholt – ebenfalls kurz, nachdem es entstanden war.
Ist das folgenreiche Techtelmechtel in Europa passiert? Angenommen, das Gen kam von uns. Dann hätte es sich bei den Neandertalern unwahrscheinlich fix verbreitet. Denn die Männer von El Sidrón lebten zur Zeit des Erstkontakts. Hier wäre es wahrscheinlicher, dass wir das Gen von ihnen haben. Der Genaustausch muss aber nicht bei der Einwanderung der modernen Menschen nach Europa passiert sein. Er kann auch schon vor 90 000 oder 60 000 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Israel stattgefunden haben, der Grenzregion zwischen Neandertalern und Modernen. In diesem Fall ist es völlig offen, wer das Gen von wem erhalten hat.Eine junges Alter der humanen Variante von FOXP2 -- was heißt das für die Sprache?
Es ist nun etwas wahrscheinlicher geworden, dass die Sprachbegabung sich vor der Zeit um 40 000 Jahren verbessert hat. Ich neige allerdings noch immer zu großer Vorsicht, aus all den Gründen, die ich im Buch dargestellt habe (siehe speziell zu FOXP2 S. 101-105). Für die künftige Forschung ist vor allem wichtig, zu klären, ob die menschlichen Mutationen von FOXP2 im Gehirn tatsächlich etwas bewirken. Wenn sie das tun, dann muss man außerdem herausfinden, ob für solche Effekte im Gehirn beide beim Menschen geänderten Basen gemeinsam verantwortlich sind, oder ob nur eine davon ausreicht. (Entsprechend genmanipulierte Mäuse wären für beide Fragen das Mittel der Wahl, jedenfalls solange man keinen Menschen finden, der hier zufällig eine Fehlermutation trägt.) Hängen die Hirneffekte nur von einer Base ab, dann könnte es sein, dass wir vor gut 40 000 Jahren von den Neandertalern bloß ein „Fleischfressergen“ übernommen haben – nämlich jene FOXP2-Base, die wir mit Raubkatzen und anderem wilden Getier teilen (siehe im Buch S. 103). Die zweite geänderte Base, die wahrscheinliche „Sprachmutation“, wäre dann viel älter.Ich rechne damit, dass es noch drei bis fünf Jahre dauern kann, bis wir in die eine oder andere Richtung halbwegs Gewissheit haben.
Literatur:
Coop, G. et al. (April 2008): The Timing of Selection at the Human FOXP2 Gene. Molecular Biology and Evolution (im Druck), doi:10.1093/molbev/msn091 .
Krause, J., et al. (November 2007), The derived FOXP2 variant of modern humans was shared with Neandertals. Current Biology 17, 1–5. doi:10.1016/j.cub.2007.10.008 .
Evans, P.D., et al. (November 2006): Evidence that the adaptive allele of the brain size gene microcephalin introgressed into Homo sapiens from an archaic Homo lineage. PNAS 103:18178-83. doi:10.1073/pnas.0606966103 .
Cann, R., und Diller, K. (2005) Why molecular evolutionists need to reassert their independence: eurocentrism hijacks the Human MSY and FoxP2. MBE 05 (Auckland), Invited Speaker Abstracts. Pdf-Link .
Cann, R., und Diller, K. (2006) Evidence against a genetic-based revolution in language 50 000 years ago (Vortrag auf der Cradle of Language Conference in Stellenbosch). Pdf-Link .
Rosas, A., et al. (Dezember 2006): Paleobiology and comparative morphology of a late Neandertal sample from El Sidrón, Asturias, Spain. PNAS 103: 19266-19271. doi:10.1073/pnas.0609662104 .
Hoch Eintrag vom 18.4.2008Kongressbericht 2:
Falschzüngige Neandertaler?
Die Fraktion um Philip Lieberman schlägt zurück: Da der Kehlkopf sich in der Debatte um
die Neandertalersprache als Fehlschlag erwiesen hat, ist jetzt die Zunge dran. Nein, es
wurde keine tiefgefrorene Neandertalerzunge im sibirischen Permafrost entdeckt. Man hat
lediglich einmal wieder die Kiefermaße der Neandertaler bemüht.
M. Hess und Robert McCarthy von der Uni Florida, der letztere bereits für Neandertaler
-„Sprachtests“ bekannt, haben sich Gedanken darüber gemacht, was für eine Zunge in diesen
Mund-Rachenraum gepasst hätte.
Bekanntlich ist die Mundhöhle von Neandertalern wegen des vorspringenden Gesichts länger als unsere. Unsere Zunge ist nicht im Mund, sondern weit unten im Rachen angesetzt. Hess und McCarthy berechneten: Um die gleichen Proportionen zwischen Rachenanteil und Mundanteil der Zunge zu erhalten wie bei uns, hätten die langkiefrigen und eher kurzhalsigen Neandertaler den Zungenansatz im Brustkorb haben müssen. An sich kein Problem – nur, dass wohl das Brustbein dann den Schluckmechanismus behindern würde. Also, meinen die Forscher, hatten Neandertaler wohl andere Zungenproportionen als wir, und das wiederum habe ihre Artikulation gestört. Letzlich ist das die Kehlkopfthese mit ausgetauschtem Hauptdarsteller.
In der Kongresszusammenfassung der Studie sind die anatomischen und akustisch-phonetischen Zusammenhänge alles andere als überzeugend dargestellt. Doch hier muss man natürlich die offizielle Veröffentlichung abwarten, um sich ein Urteil bilden zu können. Generell gilt: Anatomische Thesen über die Stimmtraktanatomie selbst lebender Spezies lagen in der Vergangenheit, wie Leser des Buches wissen, oft daneben. Und Schlussfolgerungen zur Artikulationsfähigkeit werden immer problematischer: Im Buch habe ich mich auf die vieldiskutierte Kehlkopfanatomie konzentriert, wo in den letzten Jahren mehrere alte Zöpfe abgeschnitten werden mussten. Längst ist aber auch betreffs anderer, weniger beachteter anatomischer Aspekte klar, dass unser heutiger menschlicher Stimmtrakt weder so einzigartig ist, noch andere Konfigurationen so ungeeignet für wohlartikulierte Laute sind, wie man gemeinhin angenommen hatte. (Eine Diskussion am Beispiel der Dianameerkatze finden Sie unten in der Literaturliste.)
Hess und McCarthy stützen mit ihrer Zungengymnastik einen anderen Beitrag:
McCarthy hat, einmal wieder, einen Neandertaler-Stimmtrakt simuliert.
Es fehlen fast alle anatomischen und akustischen Details, so dass man auch hier
in gespannter Erwartung der Publikation harrt. Und in der Tat bin ich sehr gespannt.
Denn bis darauf, dass der modellierte Neandertaler natürlich sehr männlich-sonor klang (siehe „Warum der Mensch spricht“, 78-79, 81), widerspricht das Ergebnis von McCarthy diametral dem der französisch-japanischen Forschergruppe von 2002. Es sei „höchst unwahrscheinlich“, so McCarthy jetzt, dass die Altmenschen „quantale Sprache“ hervorbringen konnten – gemeint sind die hochkontrastierenden Vokale a, i und u. (Siehe im Buch 65-70, 75.)
Das klingt ganz nach Philip Liebermans Position auf dem Stand von etwa 1984. Woher rührt der klare Unterschied zu der französisch-japanischen Studie von 2002, nach der Neandertaler die gleichen artikulatorischen Kapazitäten hatten wie wir?
Ohne die Details zu kennen, kann man schon einmal raten: Da Lieberman als Ko-Autor dabei ist, dürfte es einen Zusammenhang zu der öffentlichen Kritik geben, die dieser im Herbst 2007 an dem Modell der Franzosen und Japaner geäußert hat: Die Forschergruppe habe unter anderem die kurzen Hälse der Neandertaler unberücksichtigt gelassen. Die Autoren der Studie sehen das allerdings völlig anders. (Details folgen später in einem eigenen Eintrag.)
Diese Debatte ist also noch nicht vorüber.
Allerdings ist sie längst nicht mehr so wichtig wie noch 1990: Allzu klar ist inzwischen,
dass für die Artikulationsfähigkeit des Menschen sein Gehirn weit wichtiger ist
als die Mund-Rachen-Anatomie. Philip Lieberman selbst gibt inzwischen zu:
Man könnte auch mit einem Schimpansenmund ausreichend sprechen. Wenn einen das Gehirn denn ließe.
Gut, dass es noch andere Indizien gibt.
Literatur:
Hess, M., McCarthy, R., März 2008: Were Neanderthals tongue-tied? AAPA Abstracts 2008.
Riede, T., et al., Februar 2006: Multiple discontinuities in nonhuman vocal tracts. Journal of Human Evolution 50, 222-225. doi-Link .McCarthy, R., et al., März 2008: Voices out of the past: synthesizing Neanderthal speech. AAPA Abstracts 2008.
Boë, L.-J., et al. (2002), The potential Neandertal vowel space was as large as that of modern humans. Journal of Phonetics 30, 465-484. doi:10.1006/jpho.2002.0170 (Ohne Abo kriegen Sie den Volltext hier.)
Boë, L.-J., et al., August 2007: Skull and vocal tract growth from newborn to adult. Proceedings of the 7th ISSP, 75-79. Link
Lieberman, P., Oktober 2007: Current views on Neanderthal speech capabilities: a reply to Boe et al. (2002). Journal of Phonetics 35, 552-563. doi:10.1016/j.wocn.2005.07.002
Boë, L.-J., et al., Oktober 2007: The vocal tract of primates, newborn human and Neandertal: Acoustic capabilities and consequences for the debate on the origin of language. A reply to Lieberman (2007a). Journal of Phonetics 35, 564-81. doi:10.1016/j.wocn.2007.06.006
Hoch Eintrag vom 10.4.2008Was? Wir evolvieren gerade?
Im letzten Eintrag war davon die Rede, dass diverse Gene sich in den letzten paar tausend Jahren und noch bei uns heutigen Menschen mitten in der Evolution befinden.Ja, wir evolvieren noch immer – und zwar gerade jetzt besonders schnell. Bevor wir klären, warum, räumen wir erst einmal ein paar Vorurteile aus dem Weg.
Öfter hört man die Ansicht, dass sich der Mensch in den letzten fünfzigtausend Jahren nicht mehr viel verändert hat. Etwa in der Form, dass ein paar zehntausend Jahre nicht genügend Zeit für nennenswerte Evolution böten. Immer wieder ist von unseren Anpassungen an das eiszeitliche Steppenleben die Rede, die uns angeblich das Leben in den modernen Zeiten schwer machen (obwohl wir uns gerade in den modernen Zeiten explosionsartig vermehren…nicht gerade ein Zeichen, dass wir mit dieser Umwelt schlecht zurechtkommen). Anhänger der Atkins-Diät reden davon, dass der Mensch noch an Neandertalernahrung angepasst sei, sprich: viel Fleisch, wenig Kohlenhydrate. Die stärkereiche Kost, die wir uns seit der Entdeckung der Landwirtschaft angewöhnt haben, sei deshalb schrecklich ungesund und führe zu Herzkrankheiten.
Nun waren die meisten menschlichen Jäger und Sammler des Eiszeitalters wohl eher Gemischtköstler und haben sich nicht so einseitig fleischbasiert ernährt, wie es die Neandertaler in den Kaltzeiten sowie die Inuit in der Arktis taten. Und Herzkrankheiten gab es bei Neandertalern schon deshalb nicht, weil sie starben, bevor so etwas für gewöhnlich akut wird: Der älteste jemals gefundene Neandertaler war vielleicht Mitte fünfzig.
Aber falsch ist hier vor allem die Grundannahme: Wir hätten seit der Einführung de Landwirtschaft keine Zeit gehabt, uns an die neuen Lebensbedingungen — darunter eine veränderte Ernährung — anzupassen.
Dabei haben wir uns sehr wohl angepasst. In kultureller Hinsicht sowieso. Wir haben etwa unser Mahlgerät verbessert, damit uns der Steinabrieb im Mehl nicht mehr die Zähne abschmirgelt, oder wir haben neue Eiweißträger wie Milch und Bohnen aufgetan, die mit dafür sorgen, dass wir auch ohne Jagd das nötige Miminum an Eiweiß bekommen.
Aber auch biologisch haben wir uns angepasst. Zum Beispiel haben die meisten (nicht alle!) heutigen Menschen viel mehr Enzym zur Stärkespaltung im Speichel als jeder Affe – bei uns wurde das zuständige Gen vervielfacht. Ein klassisches Beispiel, das heutzutage wohl in jedem Bio-Grundkurs abgehandelt werden dürfte, ist die Verdauung von Milchzucker. Archaische Menschen verloren, wie alle Säugetiere, die Fähigkeit zur Spaltung von Milchzucker irgendwann im Kindesalter. Erwachsene brauchten das dafür nötige Enzym nicht mehr, also stellte das Gen in der mittleren Kindheit seine Aktivität ein. Seit wir Landwirtschaftler geworden sind, haben aber einige Menschengruppen begonnen, Tiermilch zu nutzen, und zwar als Grundnahrungsmittel in allen Altersgruppen. Und siehe da – alle Völker mit dieser kulturellen Praktik „evolvierten“ die entsprechende biologische Anpassung: Mehrfach unabhängig voneinander entstand und verbreitetete sich eine Mutation, die die Aktivität des Milchzucker-Enzyms ins Erwachsenenalter verlängerte, so dass Milch besser verdaut werden konnte. (Die genaue genetische Analyse zeigt, dass die Mutation tatsächlich mehrfach unabhängig voneinander auftauchte, genau wie übrigens die Erfindung der Schrift.)
Es scheint, als komme eine solche evolutionäre Anpassung recht fix, ja quasi automatisch, wenn sie dringend nötig ist!
Wie kann das sein? Widerspricht das nicht der Annahme, dass Mutationen rein zufällig sind?
Sind sie. Doch wir Menschen helfen heute nach. Wir sind so viele, dass wir dem Zufall
Beine machen.
Es ist reine Statistik. Vorteilhafte Mutationen sind so selten wie ein Lottogewinn.
Wenn nur ein paar hundert Menschen an einer „Ziehung“ für das Milchzuckertoleranzgen
teilnehmen, dann ist in jeder Generation die Chance praktisch Null, dass irgendjemand
die gute Mutation „erwischt.“ Statistisch gesehen wird es viele, viele Generationen,
vielleicht Jahrmillionen benötigen, bis jemand mal Glück hat. Doch die Chancen steigen,
je mehr Menschen „teilnehmen“ – je größer also die Bevölkerung ist. Bei einer
Teilnehmerzahl von zehn Millionen ist es schon viel wahrscheinlicher, dass in absehbarerer
Zeit eine Mutation auftaucht, die in der neuen Umgebung gerade gebraucht wird (und die sich,
einmal im Genpool, dann rasch verbreitet). Insekten
und Bakterien entwickeln nicht nur deshalb in kurzer Zeit Resistenzgene gegen Antibiotika
oder Pestizide, weil sie einen kurzen Fortpflanzungszyklus von ein paar Wochen bzw. Minuten
haben. Diese kleinen Wesen haben auch hohe Populationsgrößen, zu Deutsch, sie sind
viele. Es ist vor allem die Masse, die genetisch flexibel macht.
Je mehr wir Menschen also sind, desto schneller können wir evolvieren, unsere Biologie zeitnah an veränderte Umweltbedingungen anpassen.
Demnach ist zu erwarten, dass sich die menschliche Evolution in den letzten zehntausend Jahren beschleunigt hat.
Und das hat sie wohl auch. Das sagt jedenfalls John Hawks – derselbe, der die Gehörgene untersucht hat. Er hat vor kurzem mit Kollegen versucht, den mathematisch zu erwartenden Effekt der Masse nachzuweisen. Er fand eine sich immer stärker steigernde Evolutionsrate beim Menschen, beginnend zeitgleich mit den ersten merklichen Zeichen eines Bevölkerungswachstums vor 40 000 Jahren (dazu und zu dessen Rolle in der Sprachentwicklung siehe „Warum der Mensch spricht“, S. 180f.) In den letzten 10 000 Jahren geht die Kurve analog zur Bevölkerung steil nach oben. Mathematisch könnte man an Hawks' Methoden und Schlüssen dies und das kritisieren – vielleicht ist die Datenlage einfach noch nicht ausreichend, den Effekt ganz schlüssig nachzuweisen. Aber kaum jemand in der Genetik bezweifelt, dass er existiert.
Wir evolvieren mit Hochdruck.
Literatur:
Hawks, J., et al., Dezember 2007: Recent acceleration of human adaptive evolution. PNAS 104, 20753-20758. Link
Hoch aurquara Eintrag vom 29.3.2008Kongressberichte 1:
Die genetische Anpassung des Gehörs an Sprache geht weiter
John Hawks ist ein Anthropologe an der Uni Madison in Wisconsin, der auf Evolutionsgenetik spezialisiert ist. Das heißt, er untersucht genetische Daten mit mathematischen Methoden, die etwas über den Evolutionsverlauf aussagen können.
In „Warum der Mensch spricht“ (S. 89ff) wird erklärt, warum sich nach Erfindung der Lautsprache das Gehör ändern musste – und wann ein großer Schritt dazu geschah.
John Hawks liefert aus Sicht der Genetik nun neue Details und eine dicke Überraschung.
Er hat einen großangelegten Vergleich zwischen der DNA von Menschen und verwandten Tiere auf der einen Seite sowie von Menschen verschiedener Bevölkerungsgruppen auf der anderen Seite vorgenommen. Schon frühere Genvergleiche zwischen Schimpansen und Menschen hatten darauf verwiesen, dass im weitesten Sinne mit dem Gehör zusammenhängende Gene offenbar in der Evolution des Menschen eine Entwicklung durchgemacht haben. Darunter das Gen EYA1 (Anatomie des Gehörgangs) (siehe S. 96-97). Hawks übergreifende Untersuchung bestätigt das.
Doch die mathematische Analyse enthüllt Weiteres: Sie zeigt, dass die Gehöranpassung nicht in einem Schritt erfolgte, sondern dass hier immer wieder nachgebessert wurde, auch an ein und demselben Gen.
Das passt übrigens zu auch einem im Buch nicht berichteten Detail von Martínez’ Hörtests an fossilen Menschen. Die Hörkurven von „Miguelón“ und seinen Artgenossen (siehe S. 94ff) waren zwar in ihrem Verlauf „menschlich“ und nicht "schimpansisch" – aber sie lagen deutlich am unteren Rand der heutigen Hörschärfe für die entsprechenden Frequenzen, und der Höhepunkt war leicht verschoben. Statistisch ließ sich damit wegen der geringen Zahl an „Versuchspersonen“ und der Testunsicherheiten nicht viel anfangen. Deshalb ging Martínez in seiner (und ich in meiner) Zusammenfassung der Ergebnisse nicht darauf ein. Aber dank Hawks haben wir jetzt Grund, diese Abweichungen nicht für Zufall zu halten, sondern für ein Zeichen, dass die Feinanpassung des Gehörs seitdem noch weiter ging - und wahrscheinlich noch weiter geht: Bei 3500 oder 4000 Hertz etwa gäbe es wohl bei heutigen Menschen noch Verbesserungsbedarf. Tatsächlich zeigen Hawks’ Daten, dass der Prozess der Höranpassung an Sprache noch gar nicht abgeschlossen ist.
Hier lag die Überraschung: Zwar lassen sich die meisten der von Hawks dingfest gemachten Mutationen nicht datieren. D.h., sie können aus mathematisch-genetischer Sicht jederzeit seit der Abspaltung unserer Linie von der der Schimpansen geschehen sein. (Die Anatomie liefert bekanntlich Daten für den spätesten Zeitpunkt, an dem die Entwickung der Gehöranpassung eingesetzt hatte, siehe im Buch S. 94ff.)
Für eine Untergruppe unter den Mutationen ließ sich aber doch eine Zeitangabe machen. Sie haben sich erst innerhalb der letzten 50 000 Jahre durchgesetzt.
Leser des Buches wissen, dass Mathematiker mit solchen Zeitangaben auch daneben liegen können. Die Modelle haben eine große Fehlermarge und sind sehr kompliziert. In diesem Fall allerdings wird das junge Alter der betroffenen Mutationen dadurch gestützt, dass sie nicht bei allen untersuchten Bevölkerungsgruppen vorhanden sind! Das heißt, diese Gene entwickeln sich in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich. Mehr noch: Eine ganze Reihe von Gehörmutationen sind offenbar erst jüngst – in den letzten zwei-bis dreitausend Jahren – entstanden. Sie sind auch innerhalb der Erdregion, in der sie erstmals aufkamen, noch nicht „fixiert“, wie die Genetiker sagen, sondern noch mitten auf dem Wege, die andere Variante örtlich zu verdrängen.
Da alle Menschen in jungen Jahren ausreichend hören, um sprechen zu lernen, handelt es sich hier offensichtlich um Feintuning, das keine sehr auffälligen Unterschiede bewirkt.
Literatur:
Hawks, J., März 2008: Adaptive evolution of hearing and the appearance of language. AAPA Abstracts 2008, 114. Link
Hoch Eintrag vom 29.3.2008Kongressberichte?
Im März gab es einen fürs Thema relevanten Kongress: Die Evolution of Language Conference in Barcelona.
Doch hier gab es für Leser des Buches wenig Neues – es wurden hauptsächlich die Ergebnisse der letzten Jahre über die Fachgrenzen hinweg vorgestellt oder darauf basierend Hypothesen gehandelt. In der nächsten Zeit werde ich auf ein, zwei der interessanteren Beiträge noch eingehen. Für mich Spannender ist ein Vortrag, der erst noch gehalten werden wird - auf dem Kongress der amerikanischen Anthropologenvereinigung im April. Und zwar von jemandem, der auch nach Barcelona eingeladen war, aber die Einladung nicht wahrgenommen hat. Dazu mein folgender, hier oberhalb stehender Bericht.
Hoch Eintrag vom 29.3.2008Menschen verstehen "Tiersprache"
Nichts Neues für Tierhalter. Aber Wissenschaftler müssen auch das Alltagswissen empirisch überprüfen, ja stehen dem oft sogar sehr skeptisch gegenüber. In diesem Versuch wurde getestet, ob und wie Menschen emotionale Laute von Tieren verstehen.
Die Versuchspersonen lagen im Magnetresonanztomographen, während ihnen Äußerungen zweier Tierarten vorgespielt wurden: Einmal waren das Katzen, die den meisten Menschen halbwegs vertraut sind. Hier konnte man annehmen, dass die Versuchspersonen aus Erfahrung gelernt hatten, was die Laute bedeuten. Und zum anderen gab es Laute von Rhesusaffen zu hören, mit denen der westliche Durchschnittsmensch keinerlei Erfahrungen hat.
Ergebnis: Bei den Versuchspersonen leuchteten jeweils unterschiedliche Areale der emotionalen Verarbeitung im Gehirn auf, wenn sie positiv oder negativ gefärbte Tierlaute hörten. Und zwar unabhängig davon, ob es sich um Katzen oder Rhesusaffen handelte.
Das heißt, die Testpersonen interpretierten die Tierlaute richtig, auch wenn sie ihnen gänzlich unbekannt waren. Die jeweils gleichen Bilder im Gehirn ergaben sich, als positive und negative menschliche Stimmlaute angeboten wurden. Die Wahrnehmung von menschlichen und tierischen Leidens- und Wohlbefindenslauten lief also im Gehirn identisch ab.
Die Forschergruppe sieht dies als Beleg dafür, dass über die Speziesgrenzen hinweg Gefühle ähnlich wahrgenommen und verarbeitet werden (ihre vorsichtige Formulierung: "…unterstützt die Behauptung von der Existenz eines gemeinsamen, spezies-übergreifenden emotionalen Systems"). Dafür gibt es in der Tat inzwischen mehr als genügend Hinweise.
Die Studie hat allerdings ein kleines Manko. Sie lotet die Grenzen der Verständlichkeit nicht aus.
Wo liegt die Grenze? Man sieht es gut an Gesichtsausdrücken: Unsere menschlichen emotionalen Signale sind denen von Schimpansen und teils auch anderen Affen sehr ähnlich. Bei uns wie bei der äffischen Verwandschaft sind solche Signale im Gehirn oft fest „verdrahtet“. Wir verstehen, ohne lernen zu müssen; unbewusst und automatisch werden unsere eigenen emotionalen Zentren von solchen Signalen aktiviert. Klar also, dass es nicht viel Erfahrung braucht, um einen Affen zu „verstehen.“
Aber wie ist es mit Tieren, die uns stammesgeschichtlich ferner stehen - und deren Laute wir nicht kennen? Ein solcher Test steht noch aus.
Aber man kann eine Hypothese bilden. Die wäre: Laute, die einige wenige Grundemotionen ausdrücken, werden auch bei nicht eng verwandten Spezies tendenziell ähnlich sein. Und zwar schon deshalb, weil emotionale Lautäußerungen oft in ihrer lautlichen Form widerspiegeln, was sie ausdrücken sollen.
Wie das? Alarmrufe sind laut (Kreisch! Kreisch!), weil das die Aufmerksamkeit erregt und Dringlichkeit anzeigt. Leidenslaute (Winseln, Wimmern) werden eher leise sein, weil ein körperlich schwer leidendes Tier nicht in der Lage ist, die Stimme laut zu erheben. Psychisches Leid wird analog dazu ausgedrückt. Droh- und Angriffslaute werden häufig tief und sonor sein (Knurr!, Brumm!), weil dies aus akustisch-phonetischen Gründen das Tier größer wirken lässt ("Warum der Mensch spricht", S. 75, 78) und so die Drohung erfolgversprechender macht. Hierzu gibt es im übrigen bereits eine relevante Untersuchung: T. Fitch hat gezeigt, dass Tiere der verschiedensten Arten – bei weitem nicht nur Säugetiere – das Frequenzspektrum von Lauten nutzen, um die Größe ihres Gegenübers abzuschätzen (siehe zu den Hintergründen im Buch S. 78-79).
Nun würde man meinen, dass diese primitiven Ur-"Bedeutungen" auf der Ebene der eigentlichen menschlichen Sprache keine Rolle mehr spielen. Falsch! Auch die menschliche Sprache macht sich solche „primitiven“ lautlichen Metaphern zu nutze.
Ein Test: Stellen sie sich vor, die neu entdeckte Sprache Bromelisch hat ein Wort für plätschernde kleine Bächlein und eines, das einen großen, breiten Fluss bezeichnet. Die Wörter lauten „Boon“ und „Kick“. Leider wissen Sie nicht, welches welches ist. Aber Sie können raten. Die meisten Menschen tippen in so einem Fall, dass „Boon“ wohl eher der Fluss ist und „Kick“ das Bächlein. „Kick“ hört sich einfach viel kleiner an als „Boon“! Und zwar aus etwa den gleichen Gründen, aus denen ein winselnder Hund unbedrohlicher wirkt als ein laut bellender.
Solche lautlichen, lautmalerischen „Bedeutungslernhilfen“ machen sich viele Sprachen zu Nutze (indem sie zum Beispiel Verkleinerungsformen mit i bilden). Natürlich ist das eine Randerscheinung: In menschlichen Sprachen kann man höchst selten allein vom Klang auf den Inhalt schließen. Aber nicht nur für unsere beispiellos vokabelreichen Sprachen reichen die Möglichkeiten der Lautmalerei nicht aus. Bei anderen Tieren gibt es ebenfalls Lautäußerungen, die sich nicht mehr anhand lautlicher Eigenheiten von Fremden verstehen lassen.
Beispielsweise bei denjenigen Meerkatzenarten, die mehrere unterschiedliche Alarmrufe besitzen (siehe "Warum der Mensch spricht", S. 171ff). Hier ist auch ein zusätzliches Detail interessant, für das im Buch wegen der Längenvorgabe des Verlages kein Platz war:
Zwar ist die Lautstruktur dieser unterschiedlichen Meerkatzen-Warnrufe angeboren. Nicht angeboren ist allerdings die Bedeutung. Kleine Meerkatzenkinder müssen lernen, welcher Ruf einen Adler, welcher eine Schlange, welcher einen Leoparden und welcher einen Menschen (ja, so einen Ruf gibt es auch!) anzeigt. So wie unsere Kinder die Wörter „Adler“, „Leopard“ und so weiter lernen müssen.
Literatur:
Belin, P., et al., März 2008: Human cerebral response to animal affective vocalizations. Proceedings of the Royal Society B 275, 473-481. Link
Hoch Eintrag vom 14.3.2008Wie bekommt man Schimpansen in einen Tomographen?
Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Es sei denn, die Tiere sind betäubt, und das waren die Versuchsaffen nicht, um die es hier geht.
An Schimpansen und anderen Affen gab es bereits die Beobachtung, dass sie, wenn sie zur sozialen Kommunikation gestikulieren, bevorzugt die rechte Hand verwenden. Und zwar taten das auch solche Individuen, die bei anderen manuellen Tätigkeiten nicht unbedingt rechtshändig waren. Affen teilen sich ziemlich gleichmäßig in Rechts- und Linkshänder auf. Anders Menschen, die zu etwa 85 Prozent Rechtshänder sind. Früher glaubte man, in der bei uns vorhandenen Arbeitsteilung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte, mit der Sprache in der linken und dem räumlichen Denken in der rechten Hemisphäre, quasi das Geheimnis des Menschseins entdeckt zu haben. Geht es aber um Kommunikation und nicht um bloße Mechanik, dann denken nicht nur wir bevorzugt links. Inzwischen scheint es, dass die Verankerung der Sprache in der linken Gehirnhälfte nichts evolutionär Neues ist, sondern typisch für die soziale Kommunikation von Primaten. Ja, vielleicht sogar von anderen Tieren: Auch bei Hunden scheint die linke Hirnhälfte mit sozialer Annäherung zu tun zu haben. Sind Sie Hundebesitzer? Achten Sie mal darauf, in welche Richtung der wedelnde Schwanz stärker ausschlägt, wenn das Tier Sie freudig begrüßt. Meist ist es die rechte Seite, was auf stärkere Beteiligung der linken Hirnhälfte hindeutet.Doch zurück zu den Schimpansen, um die es in diesem Eintrag eigentlich geht. Bei einigen Tieren im Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta – also da, wo auch viele der berühmten Sprachschimpansen zu Hause sind oder waren – wurde jetzt direkt die Hirnaktivität bei beziehungsweise direkt nach der sozialen Kommunikation gemessen.
Ergebnis: Stark beteiligt schien die linke Gehirnhälfte, und da insbesondere jene frontale motorisch-planerische Region, die beim Menschen das Broca-Zentrum oder motorische Sprachzentrum enthält. Das Wernicke-Areal, früher „rezeptives Sprachzentrum“, war übrigens auch dabei.
All das ist nach den Erkenntnissen der letzten Jahre keine ganz große Überraschung mehr. (Zu den Zusammenhängen siehe etwa „Warum der Mensch spricht“, S. 50, 116ff, 139ff, 155, 208). Details bleiben zu klären: inwieweit ist die spezifische Zellstruktur im vorderen Teil des menschlichen Broca-Areals mit Fähigkeiten übergreifender hierarchischer Planung verknüpft? Findet sich diese Zellstruktur auch bei Affen oder in menschlichen Tätigkeiten trainierten Affen? Doch das Gesamtbild verdichtet sich.
Literatur
Taglialatela, J. März 2008. Communicative signalling activates ‘Broca’s’ homolog in chimpanzees. Current Biology 18, 343-348. Link
Hopkins, W.D, Leavens, A.A. März 1998. Hand Use and Gestural Communication in Chimpanzees (Pan troglodytes). J Comp Psychol. 112: 95–99. Link
Quaranta, A., et al. 2007: Asymmetric tail wagging response by dogs to different emotive stimuli. Current biology 17, R199-R201.
Eintrag vom 14.3.2008FOXP2: Gesangsbehinderte Zebrafinken
Dass eine Störung des Gens FOXP2 beim Menschen die Entwicklung der Sprache behindert, ist bekannt (und natürlich in "Warum der Mensch spricht" im Detail nachlesbar). Ebenso, dass bei Vögeln in der Gesangs-Lernphase dieses Gen im Gehirn hochaktiv ist. Und zwar in eben jenen Regionen des Gehirns - den Basalganglien - die sich bei den von der genetischen Sprachstörung betroffenen Menschen schlecht entwickelt hatten.
Eine neue Untersuchung hat nun getestet, wie Zebrafinken reagieren, wenn man während der Phase des Gesanglernens das Gen herunterreguliert.
Ergebnis: Die manipulierten Finken erreichten niemals die gewöhnliche Gesangskompetenz eines erwachsenen Tieres. Ihr Lied stabilisierte sich nicht, klang vom einen zum nächsten Mal stets etwas unterschiedlich. Das erinnert zumindest teilweise an die Symptome von Menschen, bei denen aufgrund einer Fehlermutation ebenfalls zu wenig FOXP2-Protein im Gehirn vorhanden ist. Diese haben zum Beispiel Probleme damit, Grammatikregeln oder auch die Artikulation bekannter Wörter so sicher zu lernen, dass es "sitzt".
Die Finken-Forscher schlagen vor, FOXP2 beziehungsweise seine Proteinprodukte seien speziell dafür wichtig, das, was man hört (und lernen möchte), mit dem abzugleichen, was man selbst an Lauten produziert. Nahe liegen würde es. Denn die Basalganglien, jene Hirnregionen, in denen das Gen offenkundig eine große Rolle spielt, sind unter anderem damit befasst, eigene Bewegungen mit einlaufenden Sinneseindrücken zu verrechnen und die Bewegungen entsprechend anzupassen.
Hauptsächlich aber bestätigt die Untersuchung eines: FOXP2 wird nicht nur gebraucht, um in der Embryonalentwicklung die für Sprache und Vogelsang wichtigen Hirnregionen ausreichend wachsen zu lassen. Es ist später auch am eigentlichen Lernvorgang beteiligt. Wie das molekular und hirnphysiologisch genau funktioniert, was also das Gen beim Lernen "anschaltet" und wie sich die "Anschaltung" genau auswirkt, ist allerdings nach wie vor unklar. Ebenso, ob denn nun eigentlich die menschlichen Mutationen in FOXP2 für Sprache wichtig sind oder nicht. Doch lange kann es nicht mehr dauern, bis die Ergebnisse der Untersuchungen an den genmanipulierten Mäusen hierzu vorliegen.
Literatur:
Häsler, S., et al. Dezember 2007. Incomplete and inaccurate vocal imitation after knockdown of FoxP2 in songbird basal ganglia nucleus Area X. PLoS Biology. Link
Eintrag vom 8.3.2008